Signalwerte – die Komfortzone für Lebensmittelhersteller
Signalwerte werden bestimmt, wenn man gesetzliche Höchstgehalte nicht festlegen will. Diese eher unverbindlichen Werte orientieren sich an der gängigen industriellen Praxis, sind nicht toxikologisch begründet und dienen nicht dem Verbraucherschutz. Sie sollen VerbraucherInnen und Medien Sicherheit vortäuschen. Beispiel: Acrylamid im Kaffeepulver
Es ist meine morgendliche Routine: auf dem Weg zum Computer fülle ich den Wasserkocher, stelle ihn an und wenn dann der Computer gestartet ist und das Wasser kocht, brühe ich mir einen Kaffee auf. Meist bleibt es nicht bei einer Tasse. Gesund ist das nicht. Auch wegen des Acrylamids – ich weiß es, kann als Kaffeejunkie aber kaum etwas machen.
Acrylamid wird als krebserregend und erbgutschädigend eingestuft. Theoretisch ist es damit so giftig wie Aflatoxin, radioaktive Strahlung, PAKs (polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe) und anorganisches Arsen. Die Wirkung auf den Menschen ist jedoch noch ungeklärt.
Acrylamid entsteht unter anderem durch Backen, Frittieren und Rösten von stärkehaltigen Lebensmitteln. Dementsprechend sind z. B. Kekse, Pommes frites, Bratkartoffeln und Kaffee mit Acrylamid belastet. Generell gilt, je höher die Temperatur beim Backen, Frittieren und Rösten etc. ist, desto höher sind die Acrylamidgehalte.
Aus Vorsorgegründen sollte man versuchen, die Aufnahme zu reduzieren. Während man im eigenen Haushalt einiges tun kann, um die Acrylamid zu reduzieren (viele Tipps gibt es dazu in der Smartphone APP „Essen ohne Chemie“), ist man bei Produkten wie Kaffee machtlos. Man weiß schlicht nicht, wie hoch der Acrylamidgehalt genau ist – je dunkler desto höher, mehr kann man nicht wissen und selber rösten, kommt wohl kaum in Frage.
Signalwerte für Acrylamid – Signal ohne Wirkung
Wegen der möglichen negativen Auswirkungen auf den Menschen, sollte man denken, dass die Gesetzgebung eine Minimierung von Acrylamidgehalten fördert. Möglich wäre es. Aber die gegenwärtigen EU-Signalwerte zementieren die schlechte industrielle Praxis – in diesem Fall die Schnellröstung mit hohen Temperaturen.
Der europaweit gültige Signalwert für Acrylamid in geröstetem Kaffee (450 µg/kg) liegt in etwa bei dem Wert, den 90% aller untersuchten EU-Proben unterschritten (EFSA 2012[1]). Das bedeutet nichts weiter, als dass der Signalwert für Acrylamid im Kaffee der Wert ist, den die meisten Hersteller problemlos erreichen können. Das ist ALARA Prinzip in EU-Reinkultur – Schadstoffgehalte sollen „as low as reasonable achievable (ALARA)” = „so niedrig wie vernünftigerweise erreichbar“ sein. In der EU heißt das immer: „so hoch, dass es die Masse der (lobbyierenden) Hersteller problemlos erreichen können“. Lesenswert sind dazu auch meine Artikel zu PAKs in Räucherfisch und Dioxinen in Futtermitteln.
Der Signalwert orientiert sich also weder an einer guten noch an einer mittelmäßigen Produktion, denn im EU-Mittel enthielten die untersuchten Proben 256 µg Acrylamid/kg.
Meine eigene Auswertung der deutschen Überwachungsdaten (Datengrundlage) zeigt ebenfalls, dass fast alle Proben (eine Ausnahme in 2012) bequem den extrem hohen EU-Signalwert einhalten. Selbst den alten nationalen Signalwert in Höhe von 280 µg/kg Kaffee würden die meisten Kaffeehersteller erreichen können. In der nachstehenden Grafik sind alle Meßwerte der deutschen Lebensmittelüberwachung dargestellt. (Das Ende des farbigen Kasten im Diagramm schließt 75% aller unteren Werte ein – wie man diese Diagramme interpretiert ist bei Wikipedia nachzulesen).
Die Hälfte der 374 Proben wies einen Acrylamidgehalt von unter 182 µg/kg auf (Median) – dieser Wert sollte als Zielwert gesetzlich festgelegt werden. Dann könnte dieses Ziel jährlich nach unten verbessert werden. Denn eine schrittweise Minimierung sollte sich an den Branchenbesten orientieren, nicht an dem was schon alle erreichen. Der momentane Signalwert für Acrylamid im Kaffee stellt einfach die Komfortzone der Kaffeeröster dar.
In Dänemark fand man die EU-Signalwerte übrigens auch zu hoch und setzte sie einfach herab. Die dänischen Signalwerte sind zwar immer noch sehr hoch – sie zeigen aber das EU-Mitgliedstaaten einen eigenen Spielraum haben.
Wer übrigens wegen TTIP den Blick in die USA schweifen lassen möchte: in den USA gibt es weder gesetzliche Grenzen noch Signalwerte für Acrylamid in Kaffee & Co. Die FDA (US Food and Drug Administration) veröffentlicht nur Richtlinien für die Industrie.
[1] EFSA (2012): Update on acrylamide levels in food from monitoring years 2007 to 2010. SCIENTIFIC REPORT OF EFSA. EFSA Journal 2012;10(10):2938.doi:10.2903/j.efsa.2012.2938. European Food Safety Authority (EFSA)