Pestizide im Essen – Defizite bei der Regulierung
Einführung
Pestizide sind zurzeit in aller Munde. Das Insektensterben und die Neuzulassung von Glyphosat in der EU sind weltweit ein Thema. Die Diskussionen zeigen: was und wie wir essen, hat unmittelbare und direkte Auswirkungen auf unsere Umwelt (siehe dazu auch Reuter & Neumeister 2015).
Pestizide im Essen – wie z.B. das hochgefährliche Fipronil in Eiern bekommen immer mediale Aufmerksamkeit. Und wer sich überwiegend von konventionellem Obst und Gemüse ernährt, hat Pestizide nicht nur sprichwörtlich im Munde. Konventionell produziertes Obst und Gemüse ist kaum noch unbelastet (grün im Balkendiagramm) zu haben (siehe Abbildung 1 und 2).
Abbildung 1 & 2: Pestizide in frischem Obst und Gemüse 2002-2016)
Rückstände von Pestiziden in Lebenmitteln sind gesetzlich limitiert. Rückstandshöchstgehalte (RHG), Höchstmengen oder Grenzwerte werden die Pestizidmengen genannt, die gesetzlich in Lebensmitteln vorkommen dürfen. Sie werden normalerweise für jeden Stoff und jedes Lebensmittel spezifisch festgelegt.
Rückstandshöchstgehalte werden nicht festgelegt, um VerbraucherInnen zu schützen, sondern um zu überprüfen, ob die PestizidanwenderInnen die Anwendungsvorschriften einhalten. Eine Über- oder Unterschreitung der Höchstmengen ist daher kein Anzeichen für schlechten bzw. guten Verbraucherschutz (siehe Die Pestizidbelastung steigt immer mehr).
Überwacht wird die Einhaltung von Rückstandshöchstgehalten in Deutschland von den unteren Behörden in den Kreisen, Bezirken und Städten. Diese kontrollieren ob Orangen, Bananen und Ananas etc. aus Spanien, Ecuador und Costa Rica usw. richtig gespritzt wurden.
Rechtsnorm in der EU
Pestizidrückstände werden durch die Verordnung EU 396/2005/EC geregelt. Prinzipiell sind alle Pestizidrückstände in der EU geregelt, da es einen allgemeinen Rückstandshöchstgehalt (RHG) von 0,01 mg/kg gibt, soweit die VO 396/2005/EC nichts Anderes festlegt. Für VerbraucherInnen als harmlos geltende Pestizide (z.B. Knoblauchextrakt, Fruktose uvm. siehe Anhang IV der VO) werden keine RHG festgesetzt.
Durch die Umsetzung der VO 396/2005/EC wurden bis jetzt (Stand Oktober 2017) etwa 20.200 RHG über der analytischen Bestimmungsgrenze (LOD) festgelegt, ca. 152.340 RHG liegen auf dieser (siehe EU Pestiziddatenbank, english).
Bevor die Verordnung 396/2005/EC im September 2008 die Rückstandshöchstgehalte EU-weit harmonisierte, gab es nationale und EU-weite RHG – d.h. für viele Pestizide galten gemeinsame Höchstmengen für alle anderen nationale (siehe dazu ausführlich Neumeister 2008, pdf). Durch die unterschiedlichen nationalen Höchstmengen kam es immer wieder zu Problemen beim Handel von Lebensmitteln. Die Abschaffung dieser Handelsbarrieren war der Hauptgrund für die Harmonisierung.
Bei der Schaffung der VO 396/2005/EC wurden aufgrund des Engagements einzelner EU Parlamentarier und der Zivilgesellschaft insbesondere durch das Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN) und den Druck durch Greenpeace bestimmte Vorsorgemaßnahmen in die Verordnung integriert. Der allgemeine Rückstandshöchstgehalt (RHG) von 0,01 mg/kg ist ein Beispiel, und bei der Risikobewertung für die Festlegung der RHG müssen „besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen (z. B. Kinder und Ungeborene)“ Berücksichtigung finden. Außerdem soll bei der Bewertung „das mögliche Vorhandensein von Pestizidrückständen aus anderen Quellen als der üblichen Anwendung von Wirkstoffen zu Pflanzenschutzzwecken und ihre bekannten kumulativen oder synergistischen Wirkungen, wenn die Methoden zur Bewertung dieser Wirkungen verfügbar sind“ berücksichtigt werden.
Dennoch bestehen weiterhin Defizite in der Verordnung und deren Umsetzung.
Defizite bei der Regulierung
Obwohl die VO 396/2005/EC einige Verbesserungen für den Verbraucherschutz brachte, gibt es weiterhin Defizite und Verzögerungen bei der Umsetzung verbindlicher Standards:
Die RHG unterliegen keiner Risikobewertung.
Gesetzliche Höchstmengen beruhen normalerweise auf dem höchsten Rückstand aus einer kleinen Anzahl von Feldversuchen bei denen jeweils nach Vorschrift gespritzt wurde. Für die Bewertung des akuten Risikos wird der höchste Wert (HR), für die Bewertufng des Langzeitisikos nur der Median (STMR) aus dieser Versuchsreihe herangezogen. Die mögliche Pestizidaufnahme und die Risiken werden unterschätzt (siehe ausführlich dazu den Artikel Warum nicht gleich würfeln über die Festlegung von Rückstandshöchstgehalten).
Abbildung 3: Messreihe von Rückständen aus Feldversuchen für die Festlegung von Rückstandshöchstgehalten (EFSA 2015) Für die Risikobewertung (chronische Risiken) wird der Median (STMR) als tägliche Aufnahme angenommen. Der RHG liegt etwa 10mal höher.
Gesetzliche Limits auf Antrag der Pestizidhersteller
Bei der Festsetzung von RHG wird nicht berücksichtigt, ob eine Pestizidanwendung notwendig ist. Das gesetzliche Limit wird oft auf Antrag der Pestizidhersteller festgelegt, deren Interesse die legale Vermarktung pestizidbelasteter Lebensmittel ist (siehe dazu Die Pestizidbelastung steigt immer mehr).
Die vermeintlich „Gute fachliche Praxis“ auf der eine RHG beruht, ist nichts weiter als eine Pestizidanwendung nach Vorschrift. Ob den Prinzipien des integrierten Pflanzenschutzes gefolgt wird oder gleichwertige, alternative Mittel, die keine Rückstände verursachen verwendet werden könnten, spielt keine Rolle. Ganz im Gegenteil, schlechte landwirtschaftliche Praxis, die Resistenzen erzeugt, wird mit Erhöhungen von RHG „belohnt“ (siehe meinen Artikel Wenn “gut” auch “schlecht” sein darf – “Gute landwirtschaftliche Praxis” ein irreführener Begriff).
Schwache “Sicherheitsfaktoren”
Für die Ableitung der toxikologischen Grenzwerte (ADI und ARfD – siehe Glossar) werden Unsicherheitsfaktoren verwendet, die veraltet sind und viele Effekte nicht abdecken. Dazu ausführlicher im Artikel Von Menschen und Mäusen – Mythos Sicherheitsfaktoren.
Cocktail-Effekte werden nicht berücksichtigt
Der moderne Mensch ist täglich unzähligen Schadstoffen ausgesetzt. Kosmetika, Arzneimittel, Duschgel/Shampoo1, Textilien, Möbel, Elektrogeräte, Luft und Lebensmittel enthalten einen “Cocktail” von Stoffen, der kaum überschaubar ist. Allein in Lebensmitteln werden über 500 verschiedene, mehr oder weniger schädliche Substanzen nachgewiesen. Untersuchungen von Blut und Urin bezeugen die stoffliche Belastung des Menschen. Die staatliche Risikobewertung blendet das alles aus. Sowohl bei der Zulassung von Wirkstoffen als auch bei der Festlegung von erlaubten Grenzwerten wird angenommen, es gäbe jeweils nur eine Einzelexposition. Diese Einzelstoffbetrachtung ist unwissenschaftlich.
Dabei ist der Gedanke, dass verschiedene Stoffe im menschlichen Körper interagieren können nicht neu. Bereits Rachel Carson machte sich in den 1960 Jahren dazu Gedanken:
“Rückstände könnten auch innerhalb gesetzlich zulässiger Grenzen in Wechselwirkung treten.”, und weiter: “Was ist mit den anderen Chemikalien in der normalen menschlichen Umwelt?” (Zitat aus Bowman et al. 2013, S. 250, ins Deutsche vom Autor).
Schon 1968 definierte die USA pharmakologisch gleich wirkende Pestizide (u.a. alle Cholinesterase Hemmer) und legte dafür quasi Summengrenzwerte fest (USA 1968). Diese Summengrenzwerte gelten jedoch nur für Nachweise innerhalb einer Probe und berücksichtigen nicht die tägliche Gesamtaufnahme. Trotz dieser frühen Kenntnis der additiven Wirkung sind die us-amerikanischen Grenzwerte für viele dieser gleich wirkenden Pestizide immer noch extrem hoch (siehe dazu TTIP und Pestizide) und auf EU-Ebene passiert nichts.
Das ein Stoffcocktail (mindestens) additiv wirkt, kann man als wissenschaftlich abgesicherten Kenntnisstand betrachten (siehe auch Kortenkamp 2009), und müsste demnach in die Festlegung der RHG einfließen.
Stattdessen wurde die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) bezüglich „kumulativer und synergistischer Effekte“ mit Forschung beauftragt. Ein Bericht der EFSA aus dem Jahr 2014 bestätigt, dass viele verschiedene Pestizide die gleichen Effekte hervorrufen können (EFSA 2014[1]).
Die EFSA identifizierte zum Beispiel insgesamt über 80 Pestizidwirkstoffe, die auf das Nervensystem wirken (ebenda). Die Auswertung der EFSA nicht einmal vollständig: einige neurotoxische Pestizide (z.B. Methamidophos) und andere häufig vorkommende neurotoxische Schadstoffe (Blei) wurden von der EFSA nicht berücksichtigt. Dabei werden die gesundheitlichen Limits schon vielfach überschritten (siehe Tabelle 4 “Schadstoffe, die toxikologische Grenzwerte überschreiten” in Neumeister 2016 pdf).
Nicht einmal für Handelsprodukte in denen mehrere gleich wirkende Wirkstoffe vorkommen und daher eine Mehrfachexposition sehr wahrscheinlich ist, wird eine gemeinsame Risikobewertung durchgeführt.
Zusammenfassung & Fazit
In der europäischen Gemeinschaft gelten gegenwärtig Höchtmengen für Pestizide im Essen, die durch die Verordnung 396/2005 der Europäischen Union festgelegt wurden. Diese gesetzlichen Grenzwerte leiten sich aus dem höchsten Rückstand ab, der nach einigen vorschriftsmässigen Anwendungen auf/in dem Lebensmittel zurückbleibt. Die „Verschmutzer“ bestimmen die Stoffmenge, die der/die VerbraucherIn zu sich nimmt.
Eine Risikobewertung soll gesundheitliche Gefahren für VerbraucherInnen vermindern werden, sie unterschätzt aber die Aufnahme (Exposition) und ignoriert die stoffliche Gesamtbelastung. Vermeintliche Sicherheitsfaktoren bieten keine zusätzliche Sicherheit – sie spiegeln Unwissen wieder – und das auch nur unzureichend.
Es ist ein Paradigmenwechsel notwendig: Verbraucherschutz muss den Menschen und dessen stoffliche Gesamtbelastung betrachten. Wenn der menschliche Körper schon mit neurotoxischen Schwermetallen und endokrin wirksamen Stoffen belastet ist, muss das in der Risikobewertung betrachtet werden.
Weiterhin muss sich an der besten landwirtschaftlichen Praxis orientiert werden und an nicht den Schadstoffmengen, die eine Mehrzahl der Produzenten problemlos erreichen kann.
Für Pestizide sollte man daher einen niedrigen Summengrenzwert von 0,01 mg/kg einführen, da es bereits möglich ist Lebensmittel frei von Pestizidrückständen zu produzieren (siehe Neumeister 2016, pdf. Dieser Ansatz würde der derzeitigen Logik des „technisch Machbaren“ folgen, nur im positiven Sinne einer “best practice”
Literatur
Bowman H. Bornman R, van den Berg H & Kylin H(2013): DDT: fifty years since Silent Spring. In Late lessons from early warnings: science, precaution, innovation. EEA Report No 1/2013. European Environmental Agency
(EEA).
Kortenkamp A (2009): State of the Art Report on Mixture Toxicity, Final Report, 22 December 2009, Study Contract Number 070307/2007/485103/ETU/D.1
USA (1968): The Code of Federal Regulations of the United States of America. § 120.147a. Verfügbar bei Play Google.
[1] EFSA (2014): Scientific Opinion on the identification of pesticides to be included in cumulative assessment groups on the basis of their toxicological profile (2014 update). EFSA Journal 11(7):3293, 131 pp. doi:10.2903/j.efsa.2013.3293