Warum nicht gleich würfeln? – Über die Festlegung von Höchstgehalten von Pestiziden im Essen
Warum die gesetzlichen Höchstgehalte für Schadstoffe in Lebensmitteln nicht sicher sind (Teil 1)
Bestimmte Institutionen behaupten hartnäckig, dass sämtliche Höchstgehalte für Schadstoffe in Lebensmitteln „sicher“ wären. Das entspricht natürlich nicht der Wahrheit. Die Blogserie „unsichere Höchstgehalte“ wird die Sachlage nach und nach darstellen.
Teil 1: Warum nicht gleich würfeln? – Über die Festlegung von Rückstandshöchstgehalten von Pestizidwirkstoffen
Rückstandshöchstgehalte bestimmen die maximale gesetzlich erlaubte Menge eines Stoffes in einem Lebensmittel. In der Praxis werden aber erst massive Überschreitungen beanstandet und selbst dann passiert meist nichts. Rückstandshöchstgehalte (RHG) für Pestizide sind außerdem flexibel. Gibt es zu viele Überschreitungen werden sie oft einfach angehoben (siehe Tabelle im Artikel “Die Pestizidbelastung steigt immer mehr).
Wenn man behauptet, dass die gesetzlich erlaubten Pestizidmengen „sicher“ sind, also kein Risiko für VerbraucherInnen darstellen, müsste man diese überprüfen. Mit den verfügbaren Rechenmodellen der Europäischen Behörde (EFSA) und/oder des Bundesamts für Risikobewertung (BfR) (siehe unten) kann das auch jeder und jede tun.
Doch weder die EFSA noch das BfR tun es:
Um die „Sicherheit“ der gesetzlich festgelegten Höchstgehalte zu beurteilen, werden nicht die Höchstgehalte überprüft.
Und so läuft es ab:
Derjenige der einen Antrag auf einen bestimmten Rückstandshöchstgehalt stellt – oft ein Pestizidhersteller oder Vertreter der Lebensmittelindustrie – muss mit dem Antrag Ergebnisse von üblicherweise 8-12 Rückstandsuntersuchungen einreichen. Diese Rückstände sollten durch wirksame, gesetzlich konforme Pestizidanwendungen in relevanten Regionen entstanden sein.
Es heißt in der zuständigen Verordnung 396/2005/EC zwar:
„Die Rückstandshöchstgehalte sollten für jedes Pestizid auf dem niedrigsten erreichbaren Niveau festgesetzt werden, das mit der guten Agrarpraxis vereinbar ist, um besonders gefährdete Gruppen wie Kinder und Ungeborene zu schützen.“
Trotzdem wird für die festzulegende Höchstmenge der für VerbraucherInnen schlechteste Wert herangezogen: der höchste gemessene Rückstand aus den eingereichten Untersuchungsergebnissen. Dieser Wert[1] wird dann auch für die Einschätzung herangezogen, ob die höher angelegte Höchstmenge ein akutes Risiko darstellen könnte. Dabei kann der Unterschied zwischen den Werten schon mal bei einem Faktor von zwei liegen.
Noch weniger nachvollziehbar wird es bei der Einschätzung des chronischen Risikos, also des Langzeitrisikos.
Stellen Sie sich einen Moment ein Stadt vor in dem eine Schuhfabrik für die EinwohnerInnen der Stadt gebaut werden soll. Um die zu produzierenden Größen zu bestimmen, werden alle BürgerInnen der Stadt nach der Größe der Füße aufgereiht – und es wird entschieden nur die Schuhgröße der Person in der Mitte der Reihe zu produzieren. Wieviel Leuten werden die produzierten Schuhe passen?
Die EFSA geht bei der Risikobewertung genauso vor. Für die Überprüfung des Langzeitrisikos wird weder der vorgeschlagene Rückstandshöchstgehalt[2] noch der höchste gemessene Rückstand aus den eingereichten Untersuchungsergebnissen verwendet. Auch nicht ein Mittelwert.
Der Median – also der mittlere Wert in der Rangfolge nach Sortierung der Werte wird herangezogen. Da kann man auch gleich würfeln. Denn der Median ist für eine Risikobewertung des Rückstandshöchstgehalts ungeeignet – er sagt aus, dass 50% der Werte darunter und 50% der Werte darüber liegen. Mehr nicht. Die Risikobewertung ignoriert einfach die 50% der höheren Werte.
Durch diese Herangehensweise wird das Risiko für bestimmte Wirkstoffe massiv unterschätzt. Für das wahrscheinlich krebserregende[3] Fungizid Iprodion sind in Chinakohl beispielsweise 5mg/kg gesetzlich zugelassen – für die Risikobewertung wurden 0,05 mg/kg angenommen. Hundertmal weniger als gesetzlich erlaubt. Das ist kein Einzelfall. Macht man sich die Mühe und vergleicht den „Median“ mit dem legalen Limit ergibt sich im Schnitt ein Faktor von sieben[4]. Die angenommene Pestizidaufnahme durch den Verbraucher, die für die Risikobewertung herangezogen wird, liegt also (für diese Auswahl) siebenmal unter den erlaubten Höchstgehalten.
Die nachstehende Tabelle zeigt zehn Beispiele.
Pestizid | Lebensmittel | Faktor zwischen Risikobewertung (Median) und Höchstgehalt |
---|---|---|
Flubendiamide | Kirschen | 3.4 |
Dimethomorph | Kresse | 7.9 |
Malathion | Kamille | 7.9 |
Thiacloprid | Chinakohl | 8.3 |
Tebuconazole | Salate | 10 |
Thiacloprid | Endivie | 18 |
Proquinazid | Erdbeeren | 25 |
Mancozeb (Dithiocarbamate als CS2) | Rosenkohl | 33 |
Difenoconazole | Himbeeren | 37.5 |
Tebufenozide | Aprikosen, Kirschen, Plaumen | 100 |
Ein Pestizidanwender hat ein Verschmutzungsrecht bis zum legalen Anschlag – der Rückstandshöchstmenge. Diese muss sicher sein. Den Median oder den höchsten Rückstand aus zwei Handvoll Versuchen heranzuziehen, ist nicht nur unwissenschaftlich, es hat auch nichts mit Verbraucherschutz tun.
Weiterführende Literatur
Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) hat ein Berechnungsmodell bereitgestellt. Dort kann jeder die Sicherheit der Höchstgehalte in Excel nachrechnen. (link geht zu einer ZIP Datei).
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) benutzt das Berechnungsmodell Primo. Dort kann jeder die Sicherheit der Höchstgehalte in Excel nachrechnen.
Mehr über unsichere Höchstgehalte
Neumeister L (2008): Die unsicheren Pestizidhöchstmengen in der EU, Überprüfung der harmonisierten EU-Höchstmengen hinsichtlich ihres potenziellen akuten und chronischen Gesundheitsrisikos, (108 S.), Report im Auftrag von Greenpeace e.V. (Hamburg) und GLOBAL 2000 (Wien)
Fußnoten:
[1] Dies ist nicht immer der Fall, manchmal wird hier der Median verwendet (z.b. Flonicamid in Roggen und Gerste – siehe EFSA Journal 2015;13(5):4103 Tabelle 4.1)
[2] Nur in einigen Fällen bei denen Daten fehlen, werden RHG für die Bewertung herangezogen.
[3] “Likely to be Carcinogenic to Humans“ nach US EPA (2014): Chemicals Evaluated for Carcinogenic Potential Office of Pesticide Programs. U.S. Environmental Protection Agency (US EPA)
[4] Es wurden hier 300 „Mediane“ mit den danach festgelegten Höchstgehalten verglichen.